Die Gründung der Gartenvorstadt Leipzig-­Marienbrunn

Eine Idee wird Wirklichkeit

Marienbrunn, ein Leipziger Stadtteil, gar nicht so weit vom Stadt­zentrum entfernt, südlich der Alten Messe – zwischen Connewitz, Lößnig und Probstheida gelegen. Wie kam es zur Gründung der spä­ter für den ganzen Stadtteil namensgebenden Gartenvorstadt Leip­zig-Marienbrunn? Welche Ziele verfolgte man hier konkret und wie erfolgte die Umsetzung?

Zur Gründungsgeschichte der Gartenvorstadt Leipzig-Marienbrunn erschien 1913 im Verlag Ludwig Degener Leipzig das Buch ‚Die Gar­tenvorstadt Leipzig-Marienbrunn‘. Jacob Umstetter, ein maßgebli­cher Wegbereiter der Marienbrunner Gartenvorstadt und erster Ge­schäftsführer der für deren Realisierung gegründeten, gemeinnüt­zigen Gartenvorstadt Leipzig-Marienbrunn GmbH, berichtet darin über das damalige Geschehen. Dieses Zeitdokument schildert die Beweggründe der Gründungsväter der Gartenvorstadt und den Weg von der Idee bis zum Bau, dem Einzug der ersten Mieter und der Prä­sentation während der 1913 in Leipzig veranstalteten Internationalen Baufach-Ausstellung (IBA). Nachfolgend wird daher in besonderem Maß auf dieses Buch Bezug genommen und daraus zitiert.

Infolge der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung seit Mitte des 19. Jahrhunderts und dem damit verbundenen Wachstum vieler Städte kam es zu erheblichem Mangel an Wohnraum. Eine Reaktion darauf war der Bau minderwertiger Wohnungen in mehrgeschossigen Mietshäusern. Einen ganz anderen Ansatz verfolgte die zunächst aus England kommenden Gartenstadt-Bewegung. Ihr Ziel war, offe­ne, der Gesundheit und dem sozialen Zusammenhalt der Bewohner zuträgliche Wohnanlagen zu schaffen.

Dringender Handlungsbedarf wurde insbesondere am Bau der soge­nannten Mietskasernen in Berlin verdeutlicht. Kritisiert wurden so­wohl die (un)hygienischen Zustände, die unter anderem die Zahl der Tuberkuloseerkrankungen und die Säuglingssterblichkeit erheblich anwachsen ließen, als auch die mit der Bodenspekulation verbunde­nen hohen Kosten für Bauland, die über Kredite finanziert, im Ergeb­nis die Mieten in die Höhe trieben und insofern auch aus wirtschaftlicher Sicht den dichten Wohnungsbau beförderten. Dem stand die Gartenstadt-Idee mit ihren offenen Strukturen entgegen.

Die Befürworter der Berliner Bebauung hatten zunächst erwartet, dass sich zwischen den besser verdienenden Bewohnern der Vorderhäuser und den schlechter gestellten Bewohnern der Hinterhäuser ein soziales Gemeinwesen entwickelt. Das bestätigte sich jedoch in der Praxis nicht.

So fand im Herbst 1910 in Leipzig, im noch kleinen Kreis, die erste Besprechung zur Errichtung einer Gartenvorstadt statt. Jacob Umstetter beschreibt dies als eine „Zusammenkunft einer kleinen Gruppe von meist dem Handwerkerstand angehörenden Leuten, die sich in erfreulichem Optimismus das Ziel gesetzt hatten, eine sächsisch-thüringische Gartenstadt irgendwo im Wald zu gründen“. Bereits im Winter 1910 fanden sich dann ca. 200 an der Gartenstadt-Idee interessierte Leipziger in der Ortsgruppe Leipzig der Deutschen Gartenstadt-Gesellschaft zusammen.

Es folgte ein von ca. 180 „angesehenen Leipziger Namen“ unterzeichneter Aufruf, indem für die Unterstützung der Ortsgruppe Leipzig
der Deutschen Gartenstadt-Gesellschaft und auch die Mitgliedschaft in ihr geworben wird.

In diesem Aufruf wurden Impuls und Notwendigkeit der Gründung einer Gartenvorstadt dargestellt und u. a. mit „erschreckenden Zuständen auf dem Gebiet des Wohnungswesens“, der Bodenspekulation und dem nicht nur städtebaulich verfehlten Bau von Mietskasernen begründet. Mit dem Verweis auf die aus England kommende Gartenstadt-Idee und die in anderen deutschen Städten bereits begonnene Planung und Realisierung von Gartenvorstädten sollten sich die Leipziger nun auch für eine solche Siedlung in Leipzig, sowohl für Mieter mit kleinerem als auch größerem Einkommen, engagieren. Für „dem Arbeiterstand angehörige Volkskreise“ waren daher Wohnungen „mit angemessenem Garten“ in „Gruppen- und Reihenhäusern“ und für „Beamte, Angehörige des Mittelstandes, kaufmän­nische und technische Angestellte … Eigenhäuser“ geplant.

Im Juni 1911 stellt Stadtbaudirektor Hans Strobel „vor einem größe­ren Kreis geladener Leipziger Bürger“ seine Idee vor, ,,anstelle der auf dem Ausstellungsgelände [der für 1913 geplanten IBA] projek­tierten Modellgartenstadt eine wirkliche und dauerhafte Garten­stadt neben der Ausstellung zu errichten.“ Die Zuhörer und auch die Leitung der IBA „nahmen den Plan beifällig auf“. Umgehend wurden die notwendigen Schritte zur Verwirklichung der Idee eingeleitet.

Nach viermonatiger Vorarbeit, in der Kosten- und Rentabilitätsbe­rechnungen und Baupläne erarbeitet wurden, erfolgte am 3. Novem­ber 1911 die Gründung der gemeinnützigen Gartenvorstadt Leipzig­-Marienbrunn GmbH.

Mit dem Bau der Gartenvorstadt Marienbrunn sollte auch der Nach­weis geführt werden, dass die hier geplante offene Bebauung wirt­schaftlich darstellbar ist. Statt das Bauland zu erwerben, wurde es daher lediglich von der Stadt Leipzig als Eigentümerin der Flächen für 99 Jahre gepachtet. Vereinbart war, dass das Bauland und die Baulichkeiten nach Ablauf dieser Frist lastenfrei an die Stadt zu­rückfallen.

Im Dezember 1911 wurde die Gartenvorstadt Leipzig-Marienbrunn GmbH beim Rat der Stadt mit ihrer Vorlage zum Erbbaurecht vorstel­lig. Für ihre Beratung setzte die Stadt eigens einen Ausschuss ein. Es folgten schwierige Verhandlungen, u. a. zur Höhe des Erbpacht­zinses für das von der Stadt bereitgestellte Bauland und zu den Rahmenbedingungen des Vertrages. Die Anzahl der bis zur Eröffnung der IBA fertigzustellenden Gebäude, seitens der Stadt wurde hier der zunächst zu geringe Anteil der sogenannten Kleinwohnungen kriti­siert, war ebenfalls Gegenstand dieser Verhandlungen. Die Fragen, ob die Siedlung als temporäres Ausstellungsobjekt oder Anlage von Dauer errichtet werden sollte und ob Interessen der Anwohner am Völkerschlachtdenkmal durch die am Standort Marienbrunn geplan­te Bebauung beeinträchtigt werden könnten, wurden nochmals erör­tert. Bei letzterem kam man allerdings recht schnell zum Ergebnis, dass damit nicht zu rechnen sei.

Nach intensiver Verhandlung des Erbbaurechtsvertrages wurde er in der Sitzung der Stadtverordneten am 3. Juli 1912 genehmigt.

Am 17. August 1912 erfolgte der erste Spatenstich für die nun zu­nächst 72 bis zur Eröffnung der IBA am 3. Mai 1913 fertigzustellenden Häuser.

Um den Ansprüchen der zahlreichen bereits vorgemerkten Mieter gerecht zu werden und um möglichst frühzeitig Mieteinnahmen zu generieren, sollte ein Teil der Wohnungen bereits im März fertigge­stellt und am 1. April 1913 bezugsfertig sein.
Die nun notwendigen Anstrengungen aller am Bau Beteiligten be­schreibt Jacob Umstetter mit folgenden Worten: ,,Für die ehrenamt­lich tätigen Herren in Aufsichtsrat und Kommissionen, für den Ge­schäftsführer, den Bauleiter und die übrigen Angestellten begann nun eine Zeit emsiger Arbeit“.

Diese emsige Arbeit aller Beteiligten wurde belohnt. Hierzu berichtet Umstetter: ,,Ende März 1913 war mitten im Felde ein kleines Städt­chen mit 139 Wohnungen aus dem Boden gewachsen, von dem ein halbes Jahr vorher noch Korn und Kartoffeln geerntet worden wa­ren.“ Er räumt allerdings ein, ,,dass diese Terminarbeit die Ursache einiger Mängel, die bei ruhiger Arbeit vermieden werden können [war]“. Zum Teil konnten offenbar Pläne nicht mehr überarbeitet und für einige Häuser mussten erhöhte Baukosten hingenommen werden. Der von den Stadtverordneten mit 75 Prozent vorgegebene Anteil von Kleinwohnungen wurde nicht ganz erreicht.

In der Gesamtschau kommt der Autor jedoch zu dem Ergebnis, dass „das in der ersten Bauperiode Geschaffene als wohlgelungen, nicht nur in gesundheitlicher und schönheitlicher, sondern auch in wirt­schaftlicher Beziehung, gelten [kann]“. Er weist aber auch darauf­hin, dass einige der geplanten, öffentlichen Bauten und Anlagen in der Kürze der bis zur Eröffnung der IBA verfügbaren Zeit nicht reali­siert werden konnten.

So konnte der „ideale Entwurf eines Gast- und Gemeindehauses mit Vortragssaal, Bibliothek u. v. m.“ nicht reali­siert werden. Stattdessen wurde lediglich ein „eingeschossiges Gasthaus“ errichtet. Auch die „moderne Turnhalle“ und die „großzü­gig angelegte Planung eines Licht- und Luftbades, das Architekt Wünschmann in liebenswürdiger Weise kostenlos bearbeitete“ konnten nicht verwirklicht werden.

Seit Beginn der Planung für die Gartenvorstadt standen der soziale, architektonische und wirtschaftliche Aspekt einer solchen Unter­nehmung gleichwertig nebeneinander. Als Geschäftsführer der Gar­tenvorstadt Leipzig-Marienbrunn GmbH zieht Jacob Umstetter auch in wirtschaftlicher Hinsicht ein positives Resümee.

Er stellt zwar fest, dass bei den Verhandlungen zum Erbbaupachtvertrag seitens der Stadt der Gedanke der Gemeinnützigkeit der GmbH am Ende weitgehend unberücksichtigt blieb und insofern für die Unterneh­mung lediglich marktübliche und zum Teil auch harte Bedingungen hingenommen werden mussten.

Für das Vorhaben konnte dennoch eine wirtschaftlich sichere Basis geschaffen werden. Es war damit auch in dieser Hinsicht beispielgebend. Diese Einschätzung begrün­dete sich auch auf der Vorausschau, dass die Stadtanleihe nach voraussichtlich 67 Jahren zurückgezahlt sein würde und die damit freiwerdenden Mittel für Zins und Tilgung bis zum Ablauf des 99-jäh­rigen Erbbaupachtvertrages zusätzlich für die Erhaltung und ggf. Erweiterung der Gartenvorstadt eingesetzt werden können.