1915 wurden in nur 9 Monaten die Stickstoffwerke Piesteritz gebaut, internationale Embargomaßnahmen ausgleichen zu können. In der Folge bestand eine akute Wohnungsnot, der durch den Bau einer Werkssiedlung für 1000-2000 Menschen begegnet wurde. Durch den Stadtplaner Georg Haberland und den (damals jungen Schweizer) Architekten Otto Rudolf Salvisberg (der später in seinem Berufsleben noch an mehreren Gartenstädten beteiligt ist) wurde eine Siedlung mit 372 Wohneinheiten (zwischen 50 und 160 m²) errichtet, die sowohl für die Industriearbeiter als auch für Betriebsleiter gedacht war. Alle hatten moderne Innenräume und waren generell mit Bad, IWC und Garten zur Selbstversorgung ausgestattet. Die Häuser sind mit liebvollen Details ausgestattet und entsprechen gestalterisch dem, was wir heute als „Neue Sachlichkeit“ bezeichnen.
Zur Vollständigkeit einer Siedlung waren ein Konsum-Waren- und -Vereinshaus, eine katholische Kirche, ein Rathaus, eine Mädchenschule, ein Frauenwohnheim für ledige Mädchen und eine Vielzahl kleiner Geschäfte eingeordnet.
Die Siedlung blieb in der ganzen DDR-Zeit Werkseigentum und war Bestandteil der Denkmalsliste der DDR und hatte den üblichen Sanierungsstau. 1991 wurde als Tochter der Stickstoffwerke die Piesteritzer Siedlungsgesellschaft (PSG) gegründet, die ab 1992 der Treuhand (TLG) unterstand. Diese strebte eine Einzelprivatisierung der Häuser an, die jedoch zum Glück von der Stadt Wittenberg, dem Bauhaus Dessau und der PSG gemeinsam verhindert wurde. Letztendlich ging 1993/94 die Siedlungsgesellschaft als Ganzes in das Eigentum der Bayerwerke AG über, mit einem Fortbestand der Mietverträge und der Aussicht auf eine sozialverträgliche und denkmalgerechte Siedlungserneuerung. 1994 wurde dann durch den Münchner Architekten Fritz Huber ein Gesamtsanierungsobjekt erstellt, welches ab 1996 als Außenstandort in die EXPO 2000 eingegliedert und mit 6 Mio. DM gefördert werden konnte. Bis zum Jahr 2000 erfolgte dann tatsächliche die vollständige Sanierung, die Grundlage des heutigen Eindruckes ist. Herausragendes Kriterium ist u.a., dass die Siedlung autofrei ist. Nur auf dem zentralen Platz darf geparkt werden, eine Zufahrt zu den Wohnhäusern ist nur zum Be- und Entladen gestattet und für die Anwohner stehen Richtung Werk ausreichende Garagenhöfe und Dauerparkplätze zur Verfügung.
Das gibt der Siedlung, trotz ihrer Intimität und Wohnlichkeit eine Transparenz, Offenheit und Ruhe, die sofort auffällt. Die kleinen Läden sind, wie so oft, geschlossen und jetzt teilweise Büros und Gewerberäume, das Kaufhaus war zwischenzeitlich ein aufstrebendes Hotel, wird aber jetzt für Wohnzwecke umgenutzt (mit weiterer öffentlicher Nutzung einzelner Säle und Räume), die katholische Kirche ist aktiv in Betrieb, die übrigen öffentlichen Gebäude (wie das nicht mehr erforderliche Rathaus) sind zum Luca-Cranach-Gymnasium zusammengefasst worden. Das Torhaus beherbergt heute das soziale Zentrum mit Vereins- u. Ausstellungsräumen, Beratungsstellen und diversen Info-Einrichtungen. Beeindruckend ist, dass in den einzelnen Bebauungsgruppen eine vollständige Einheitlichkeit erhalten bzw. wieder hergestellt wurde, die sich bis hin zu den Gartenhäusern erstreckt.
Eigentümer ist inzwischen die „Deutsche Wohnen“ aus Berlin, die Insider als „Heuschrecke“ bezeichnen und in den Zeitungen hört man immer wieder wird von Streitigkeiten. Auch entsteht ein neuer Sanierungsstau. Ab 2018 gibt es nun Gerüchte, dass die Siedlung ab 01.01.2019 einer Leipziger Immobilienfirma gehören soll, die wiederum der Kategorie „Heuschrecke“ zugeordnet wird.
Seit 2010 gilt für die Siedlung eine Erhaltungssatzung und eine Gestaltungssatzung war 2018 in Vorbereitung. Dies soll Luxussanierungen und unerwünschte Veränderungen und Umbauten verhindern. Im Rahmen des Bauhausjubiläums 2019 ist die Siedlung eine der 100 Stationen der „Grand Tour der Moderne“ und auch wir können einen Besuch nur empfehlen.