von Fried Fleischhack
Streng genommen waren mein Vater Curt Fleischhack und wir als Familie nicht Marienbrunner sondern Marientaler. Von unserer Zugehörigkeit zur Kirchengemeinde Marienbrunn her waren wir allerdings durchaus Marienbrunner. Zudem führte meinen Vater jahrzehntelang der Weg von zu Hause zur Arbeitsstelle täglich durch Marienbrunn. Die Möglichkeit, zwei Haltestellen (von der damaligen Endstation Märchenwiese an) mit der Straßenbahn zu fahren, wurde kaum genutzt. Die Strecke von dem Frau-Holle-Weg zur Deutschen Bücherei wurde zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt. Vom früheren Wohnort Papitz bei Schkeuditz aus war das nicht gut möglich, deshalb bezog der in der Deutschen Bücherei tätige Bibliothekar 1930 mit Frau und Tochter eins der neu entstehenden Siedlungshäuser im Frau-Holle-Weg. Dort vergrößerte sich die Familie bald durch die Geburt eines Sohnes. Als Büchereigehilfe hatte Curt Fleischhack seinen Dienst in der Deutschen Bücherei (der „DB“)begonnen, als deren Hauptdirektor beendete er ihn nach 46 Jahren. Ein außergewöhnlicher Berufsweg.
Geboren wurde C. F. 1892 in Leipzig-Reudnitz. Dort wuchs er, darauf war er in gewisser Weise stolz, als Kind einer Arbeiterfamilie auf. Nach 8 Jahren Besuch der 9. Bürgerschule erhielt er eine Ausbildung Als Lehrling der Buchhandlung F.E. Fischer und auf der Buchhändlerlehranstalt. Als Buchhandlungsgehilfe arbeitete er zunächst in Wiesbaden, kehrte dann aber nach Leipzig zurück. 1915 trat er als Büchereigehilfe in den Dienst der (seit 1913 im Aufbau befindlichen) DB. Das Jahresgehalt wurde auf 1800 Mark festgelegt (bei zufrieden stellenden Leistungen in 5 drei-jährigen Stufen steigerungsfähig auf 3000 Mark). Bereits ein viertel Jahr später erfolgte jedoch die Einberufung zum Heeresdienst. Es gelang C. F. diesen als Sanitäter zu leisten. Er wollte Leben retten und nicht töten. Für ihn selbst lebensgefährliche Situationen an der vordersten Front hat es dabei durchaus gegeben. Nach Kriegsende konnte er (eine neue Bewerbung war nötig) seinen Dienst in der DB wieder aufnehmen. Dem Büchereigehilfen kamen dabei in der Beschaffungsstelle seine Erfahrungen als gelernter Buchhändler zugute. Mit Energie erarbeitete er sich die Voraussetzungen zur Ablegung der “Prüfung für den mittleren Dienst an wissenschaftlichen Bibliotheken“. So konnte er als Bibliothekssekretär 1922 die ebenfalls in der DB tätige Bibliothekarin Marianne Holze heiraten. Eine Weiterbeschäftigung beider Eheleute im gleichen Institut bedurfte allerdings der besonderen Genehmigung. 1924 übernahm Dr. Heinrich Uhlendahl die Leitung der DB, ein wichtiger Schritt für deren Entwicklung, aber auch für die Entwicklung des Bibliothekars C.F. Uhlendahl erkannte sehr bald dessen besondere Fähigkeiten, bezog ihn in den Kreis seiner engeren Mitarbeiter ein und betraute ihn mit verantwortungsvollen Aufgaben. Die Zusammenarbeit beider vertiefte sich immer mehr und blieb bis zum Ende von Uhlendahls Tätigkeit erhalten. Oft saßen die beiden bis in die Nachtstunden hinein, dann in Uhlendahls Wohnung auf der Straße des 18. Oktober, beratend zusammen. C.F. war es, der die Theorien seines Chefs in die Praxis umsetzte. Mit der Begründung, dass er ihn für die Erledigung schwieriger Sonderaufgaben nicht entbehren könnte, stellte sich der Direktor der DB nach 1933 schützend vor seinen Mitarbeiter. Das war nötig, da C.F., er war nicht Mitglied der NSDAP, als politisch unzuverlässig galt. Die dadurch gegebene berufliche Unsicherheit veranlasste das Ehepaar Fleischhack 1939 in der Nähe von Naunhof ein größeres Stück Feld zu kaufen, um dort einen Garten anzulegen. Er sollte notfalls ein Stück Lebensunterhalt schaffen. Dieser Notfall trat nicht ein. Aber in den Kriegs- und Nachkriegsjahren war das im Garten Angebaute eine wertvolle Hilfe. Mancher Zentner Kartoffeln, bei der Bahn als Frachtgut in Naunhof aufgegeben, konnte vom Bahnhof in Connewitz mit dem Handwagen in den Frau-Holle-Weg gekarrt werden. So konnten auch die in Reudnitz ausgebombte alte Mutter und ein aufgenommenes elternloses Flüchtlingskind mit “über die Runden“ gebracht werden. Viele hatten die Möglichkeit zu solcher, über die spärlicher werdenden Lebensmittelmarken hinausgehenden, Selbstversorgung nicht. Deshalb wurde auf C. F. Veranlassung die hinter der DB liegende (damals noch nicht von den Erweiterungsbauten besetzte) Wiesenfläche in Parzellen aufgeteilt und an interessierte Mitarbeiter zur Nutzung übergeben. Nicht diese hatte C.F. im Blick. Unterhalb der damaligen Kaiserin Augusta-Straße befand sich, Richtung Großmarkthalle, das Barackenlager mit ausländischen Zwangsarbeitern. Der Weg zur DB wurde gelegentlich absichtlich nahe am Lagerzaun genommen. Möglichst unauffällig wanderte dann eine Schachtel hindurch, wenn Tags zuvor ein flehentlicher Blick deutlich gemacht hatte: Ein Insasse benötigt dringend ein Fieberoder Schmerzmittel. Ohne die hiermit verbundene Gefahr konnte C.F. seinen Sanitätsdienst beim Roten Kreuz verrichten. Ein 1945, kurz vor Kriegsende, gestellter Antrag des Roten Kreuzes, ihn nicht zum Volkstum einzuberufen, wurde allerdings von der NSDAP-Kreisleitung abgelehnt. So blieb nur die Befehlsverweigerung. Leitung und Betriebsrat der DB konnten ihrem Mitarbeiter später bescheinigen, dass dieser bis zum Einmarsch der amerikanischen Truppen im April 1945 ununterbrochen seiner Arbeit nachgegangen ist. Nachdem Leipzig zur Sowjetischen Besatzungszone gehörte, waren umfangreiche Verhandlungen mit der “Inspekteurin der SMAD für das Bibliothekswesen“ in Berlin-Karlshorst nötig. Direktor Uhlendahl hat sie nicht ohne C. F. geführt. Die Inspekteurin unterstützte die Rückführung von, im Krieg wegen der Luftangriffe, ausgelagerter Bestände der DB und die Fortführung ihrer Arbeit und der des Buch- und Bibliothekswesens in Leipzig überhaupt. 1951 wurde C.F. zum Direktor der Bibliographischen Abteilung der DB berufen. Die Entwicklung bibliographischer Methoden, die Erarbeitung von Schriftumsverzeichnissen war seit jeher sein Spezialgebiet. Nicht nur, aber besonders auf diesem Sektor hat er in vielfältigen Publikationen und bei der Ausbildung des Nachwuchses sein Wissen weitergegeben. Auch zur Zeit des DDR-Regimes begegneten C.F. mancherlei Schwierigkeiten und Behinderungen wegen seiner politischen Einstellung, nicht zuletzt aufgrund seiner und seiner Familie Mitarbeit im Raum der Kirche. Aber sein Fachwissen und sein unermüdlicher Einsatz für die DB führten dazu, dass er 1955 zu deren Hauptdirektor (die Bezeichnung „Generaldirektor“ war Mitte der 50-er Jahre abgeschafft, 1964 allerdings wieder eingeführt worden) berufen wurde. Der Vertiefung internationaler Beziehungen, dem Kontakt mit westdeutschen Verlegern und Bibliothekaren galt in den folgenden Jahren seine besondere Aufmerksamkeit, genauso wie dem beginnenden Erweiterungsbau der DB. 1961 wurde ihm beim Eintritt in den Ruhestand der Professoren-Titel verliehen. Damit wurde die jahrzehntelange fachliche Leistung gewürdigt. Dabei hat er in der Zusammenarbeit mit anderen und bei seiner Leitungstätigkeit immer den Menschen gesehen. Oft wurde ihm von Mitarbeitern dankend bestätigt, dass er ein offenes Ohr und Herz für ihre kleinen oder großen Sorgen, ihre beruflichen oder persönlichen Schwierigkeiten hatte. Das Ausscheiden aus dem aktiven Bibliotheksdienst hinderte ihn nicht, weiterhin mit Rat und Tat für die DB dazu sein. Die äußere Voraussetzung dafür schuf das eigene Arbeitszimmer, das ihm in ihr noch Jahre zur Verfügung stand. Freilich hatte er nun, nachdem ihn ein Leben lang der Beruf ganz gefordert hatte und er ganz in diesem aufgegangen war, mehr Zeit für das Ausruhen in Haus und Garten (besonders zog es ihn, jetzt nicht mehr zum Kartoffelanbau, in den bei Naunhof). Auch die inzwischen vorhandenen Enkel kamen zu ihrem Recht. Sie wurden von den Großeltern besucht, umsichtig mit in den Urlaub genommen oder waren zu Besuch im Frau-Holle-Weg. Dann wurde natürlich auch durch Mariental und Marienbrunn spaziert. Im 80. Lebensjahr ist Curt Fleischhack im St. Elisabeth-Krankenhaus verstorben. Die Grabstelle der Eheleute ist auf dem Südfriedhof noch zu finden.