von Ulrich Kühn
Der Ehrenvorsitzende des Vereins der Freunde Marienbrunns, Pfarrer Hans-Dietrich Weichert, ist am 13. März 2010 im Alter von 83 Jahren im Kreise seiner Familie verstorben. Mit seinem Tod geht so etwas wie eine Epoche von Marienbrunn zu Ende, und es ist Anlass, seiner in großer Dankbarkeit zu gedenken.
Am 21. Februar 1927 in Hartha bei Waldheim geboren, hat er nach Kriegsdienst als Flakhelfer und amerikanischer Kriegsgefangenschaft sein Abitur in Freiberg abgelegt und danach in Erlangen und Tübingen Theologie studiert. Dort lernte er seine Frau Karin kennen, die er 1952 heiratete. Seine erste Pfarrstelle war Neuenbürg im Schwarzwald, wo auch der erste Sohn, Michael, geboren wurde. Aber dann entschloss sich die junge Familie, der Bitte der sächsischen Kirchenleitung zu folgen und nach Sachsen zu wechseln. Hans-Dietrich Weichert wurde sodann Pfarrer in Sachsenburg bei Frankenberg, später in der Taborgemeinde, Leipzig Kleinzschocher und seit 1967 in Leipzig Marienbrunn. Bis zuletzt wusste er sich getragen von dem, in dessen Dienst er ein Leben lang stand. In seiner bewegenden Abschiedspredigt am 26. Januar 1992 hat er noch einmal zusammengefasst, was ihm das für das Leben unter dem Geleit Gottes bedeutet. Es ist ein Leben aus der Liebe, die ich täglich empfangen und weitergeben kann. Es ist ein Leben unter der Gnade, die mir das Entscheidende im Leben unverdient zuteil werden lässt. Es ist ein Leben in der Gemeinschaft, wo einer für den anderen da ist. Entlastung und Ermutigung- das waren die beiden Stichworte, die für ihn das Evangelium zusammenfassten. Es ist ein Segen, dass wir Dieter Weichert als Pfarrer in Marienbrunn hatten. Wir sind gesegnet auch als nichtchristliche Bewohner von Marienbrunn, weil ein Mensch durch unsere Straßen lief, der uns anblickte unabhängig von unserer Weltanschauung, der jahrelang der Ehrenvorsitzende des Ortsvereins der Freunde Marienbrunns war; der Jahr für Jahr – als „Quellenheiliger“ wie man ihn bald nannte – am Marienbrunnen die Legende von Maria (der Namenspatronin Marienbrunns) aus dem 15. Jahrhundert vorgetragen hat; der ein Stammgast in Marienbrunner Gaststätten bei ernsten und lustigen Gesprächen war, noch im Sommer 2009.
Drei Wesenszüge von HDW (so die verbreitete liebevolle Abkürzung) sind charakteristisch:
- Hans-Dietrich Weichert hat 25 Jahre lang den Dienst des Pfarrers in Marienbrunn versehen, 1967-1992. Als er diesen Dienst begann, wurden die hohen Wohnblocks in Lößnig erstmalig bezogen. Da organisierte er sofort einen ökumenischen Besuchsdienst. Nicht die SED, sondern die Kirche war die erste, die zum Einzug gratulierte. Dieter Weichert hat denen die Schau gestohlen. Er war und blieb denen ein Ärgernis, weil die Kirche sich zunehmend füllte, vor allem mit Familien mit Kindern und mit jungen Menschen. Das war der Lebenshintergrund für die mancherlei Kämpfe in der Schule und auf dem damaligen Stadtbezirk. Er war denen ein Dorn im Auge, für uns Marienbrunner eine Art Bannerträger. Aber das war nur die Außenseite: Das Zentrum war seine Gemeinde und „seine“ Marienbrunner Kirche. Wie eine Familie Gottes sollte sie miteinander leben und sich versammeln, feiern und nachdenken – das war sein Leitbild. Die Familiengottesdienste waren weit über Marienbrunn hinaus berühmt. Seit 1973 duften auch Kinder am Abendmahl teilnehmen. Mit den jungen Erwachsenen hat er einen Arbeitskreis gegründet, der bis weit über seine Emeritierung hinaus bestand. Dort geschah ein Austausch nicht nur über Glaubensfragen im engeren Sinn, sondern über Literatur, Philosophie, Politik. Eine tiefe Prägung ging davon aus. Kurz nach dem Mauerbau begann sein Dienst hier, die Zeit des politischen Umbruchs hat er hier mit -erlebt und gestaltet, und 1992 verabschiedete er sich. Im Abschiedsgottesdienst gestand er, dass er manchmal zaghaft gewesen sei, dass ihm auch auf der Kanzel die Beine zitterten, was man zum Glück unter dem Talar nicht sehen könne.
- Zu HDW gehörte seine Familie. Er war ein stolzer Ehemann und Vater. Über dem Bett der letzten Wochen hing eine Photographie: der Vater mit seinen vier erwachsenen Söhnen. Er war stolz auf sie, und sie hatten ein partnerschaftlich-hochachtungsvolles Verhältnis zu ihrem Vater. Das war auch für Außenstehende wohltuend. Und es kam in wunderbaren Festen zum Ausdruck – das letzte große Fest war sein 80. Geburtstag im Februar 2007. Die Schwiegertöchter und Enkel nahmen daran teil, und 2009 teilte er noch mit: ein Urenkel –Oskar – ist geboren. Ohne seine Frau Karin hätte er nicht das sein können, was er gewesen ist. Noch am 3. Dezember 2009 hat er eine ergreifende Rede (wohl seine letzte) zu ihrem 80. Geburtstag gehalten. Karin, aus Württemberg (ursprünglich aus Memel) stammend, ist ihm 1953 aus dem Westen nach Leipzig gefolgt, mit dem jüngst geborenen Ältesten, Michael, auf dem Arm. Ab 1961 konnte sie nicht mehr zu ihrer Familie reisen. Sie hat die damalige wirtschaftliche Schwäche des Pfarrerstandes mit unglaublicher Würde getragen. In der letzten Zeit, wo es ihr selbst gar nicht gut ging, hast sie fast Übermenschliches geleistet, um ihrem kranken Mann zur Seite zu stehen.
- Eine dritte Dimension des Lebens von Dieter Weichert ist seine Fähigkeit zur Freundschaft. Dieses Menschlich-Freundschaftliche griff nach ganz Marienbrunn. Die Veranstaltungen des Vereins der Freunde Marienbrunns und die Sonntagsrunden in der Gaststätte „Süd-Ost“, die man die „Pastorstunde“ nennt, hat er noch in seinem letzten Brief beschrieben. Es war ein offenes Christentum, das er hier lebte, ein Glaube, der sich freute über alle Erfahrungen um uns herum. HDW, der Ortsgeistliche, war ein Symbol für die geistlich-weltliche Einheit von Marienbrunn. Das war in der Tat etwas Besonderes. Aber es war nichts Zusätzliches, sondern sozusagen selbstverständlich. Den Freund Dieter Weichert werden viele von uns nicht vergessen können. Es war ein eher zurückhaltendes, jedenfalls kein penetrantes Christentum, das er lebte. Die großen Worte des Glaubens kamen nur in besonderen Momenten über seine Lippen. Es war österlicher Glaube, der ihn erfüllte, dem Leben zugewandter Glaube. Das hat uns alle angesteckt. Deshalb auch sein Wunsch, sein Trauergottesdienst möge österlichen Charakter haben. Zunehmend lernte er, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Was ich mir wünsche für das nächste Stück meines Weges? schrieb er im Juli 2009. Und er zitiert: „Ewigkeit in die Zeit leuchte hell herein, dass uns werde klein das Kleine und das Große groß erscheine.“ Das ist eine Botschaft, die er uns mitgibt, die jeden Tag neu umgesetzt werden will. Manchmal fallen die kleinen Sorgen von uns ab – das Wesentliche, das Große tritt vor unser Auge. Seltene, aber wichtige Momente sind das. Es ist eine entlastende und zugleich ermutigende Blickwendung. In einer Rundfunkpredigt aus der Zeit der Wende – und er predigte manchmal im Rundfunk – hat er einmal gesagt: „In aller Angst und allen Zweifeln gibt es etwas, das hält und trägt, die Zusage: „Seid getrost und fürchtet euch nicht!“ Die Angst schwindet, wenn der ins Boot kommt, dem man glauben kann. Er ist dabei bei ruhiger Fahrt und im Sturm und Wellen, im Glück und in der Angst, in unserem persönlichen Lebensschiffchen wie im Schiff, das sich Gemeinde nennt, wie in dem Boot, in dem wir jetzt in unserem Land miteinander auf Fahrt sind. Und das heißt: er ist in unserer Wirklichkeit dabei und ich kann ihn entdecken und mich an ihn halten, wo auch immer wir uns mit unserem Boot befinden. Wir sollten nicht daran zweifeln, dass er das auch uns sagt: „Seid getrost! Ich bin’s! Fürchtet euch nicht.“