von Christoph Bock
Am 02. September 1913 wurde A.-H. Frucht in Torgau geboren. Sein Vater, Ernst Emil, fiel bereits kurz nach Beginn des Ersten Weltkrieges. Seine Mutter, Anna (geborene Harnack), war damit bei der Erziehung ihrer drei Kinder auf sich allein gestellt. Für die Familie war dies durch Krieg, Inflation und die Wirren der beginnenden Weimarer Republik eine auch wirtschaftlich schwierige Zeit. Seine Erziehung war einerseits durch seine Mutter deutsch-national geprägt, andererseits hatte die akademische Tradition der Familie großen Einfluss. Sein Urgroßvater war der Chemiker und Pharmazeut Justus von Liebig, sein Großvater der Universalgelehrte und erste Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, der heutigen Max-Planck-Gesellschaft, Adolf von Harnack. Sein Cousin war der Molekularbiologe und spätere Nobelpreisträger Max Delbrück. Besonders Adolf von Harnack spielte hier wohl auch an Stelle des im Krieg gefallenen Vaters eine bedeutende Rolle. Die Schule, insbesondere Mathematik, fiel A.-H. Frucht nicht leicht. Bis zum Abitur wurde er zweimal nicht versetzt. In dieser Zeit entdeckte er das Flötenspiel für sich.
Nach dem Abitur studierte Frucht Medizin in Leipzig, Jena und Cincinnati in den USA. 1939 promoviert er. Den aufkommenden Nationalsozialismus lehnte er ab. Durch Familienmitglieder hatte er zunächst auch Verbindung zu Widerstandsgruppen wie der „Roten Kapelle“ und dem Kreis um Carl Friedrich Goerdeler.
Während des Zweiten Weltkrieges wurde A.-H. Frucht als Truppenarzt zur Wehrmacht eingezogen. Zunächst im Frankreichfeldzug eingesetzt, versah er 1940 seinen Dienst in einer Artillerie-Einheit nahe Straßburg. Sie war technisch schlecht ausgerüstet. Es fehlte an Material. So bekam er am 18.06.1940 den Auftrag, ein Fahrzeug aus dem noch nicht von deutschen Truppen besetzten Straßburg zu beschaffen. Dort hatte man seit Tagen mit dem Einmarsch der Wehrmacht gerechnet. Die französischen Truppen hatten Straßburg bereits in der Nacht verlassen. Als A.-H. Frucht auf seinem Motorrad in die Stadt hineinfuhr, glaubten die dort verbliebenen Bewohner, er sei ein Vorbote der nun eintreffenden deutschen Truppen. Man führte ihn in die Amtsräume des Bürgermeisters und erklärte dem vermeintlichen Emissär die Kapitulation der Stadt. Über dieses Geschehen wurde in den deutschen Medien, insbesondere im Rundfunk umgehend berichtet. Dem jungen Truppenarzt brachte es eine Reputation ein, die er im weiteren Verlauf des Krieges noch für unkonventionelles humanitäres Handeln zu nutzen wusste. So rettete er während seiner Zeit an der Ostfront eine Gruppe von durch ein Standgericht zum Tode verurteilter Zivilisten vor der Erschießung.
Nach dem Ende des Krieges ging A.-H. Frucht nach Ostdeutschland. Wegen des großen Mangels an ärztlichem und wissenschaftlichem Personal wollte er sich hier einbringen. Zunächst war er als Amtsarzt in Dippoldiswalde tätig und arbeitete in der sächsischen Landesverwaltung am Neuaufbau des Gesundheitswesens mit. In dieser Zeit unternahm er etwas, das wohl als typisch für ihn gelten darf. Da die Westmächte im damaligen Kalten Krieg die Lieferung von Penicillin in den Ostblock verhinderten, besorgte A.-H. Frucht eine Probe aus den USA und leitete sie an das Pharmaunternehmen Madaus in Dresden weiter. Madaus entwickelte aus diesem Stamm dann eigenes Penicillin. 1948 stufte die Sowjetische Militäradministration eine Vielzahl von Mitarbeitern der Sächsischen Gesundheitsbehörde als politisch unzuverlässig ein und veranlasste ihre Entlassung. Auch A.-H. Frucht verlor damit seine bisherige Funktion, erhielt aber unter der Maßgabe, sich nicht politisch zu betätigen, auf Betreiben deutscher Stellen eine Anstellung als Dozent am Physiologischen Institut der Universität Leipzig. 1953 habilitierte er sich hier mit einer Arbeit über Ultraschalldiagnostik.
1954 folgte er dem Ruf nach Ost-Berlin. Er bekam dort die Möglichkeit, das Institut für Arbeitsphysiologie zu gründen und wurde dessen Direktor. Das unter dem Viermächte-Status stehende, noch offene Berlin ist in dieser Zeit der Ost-West-Auseinandersetzung eine Geheimdiensthochburg. Auch A.-H. Frucht hatte recht bald Kontakt zum amerikanischen Geheimdienst. Im Rahmen dieser Kontakte beschaffte er den Amerikanern u.a. eine Probe des in der DDR eingesetzten Impfstoffs gegen Kinderlähmung. Im Gegensatz zur Bundesrepublik in der es 1959 eine Vielzahl von Erkrankungen, auch mit tödlichem Verlauf gab, war im gleichen Jahr, dank dieses Impfstoffs, in der DDR kein einziger Fall aufgetreten. Für Frucht ging es hier allerdings weniger um geheimdienstliche Arbeit als vielmehr um ärztlichen Anstand.
1960 wurde A.-H. Frucht als Professor der Physiologie an die Humboldt-Universität Berlin berufen. Das Arbeitsgebiet seines Institutes war breit gefächert, es reichte von Sportmedizin bis zu Themen der Umweltverschmutzung. Im Rahmen dieser Arbeit zeigte sich auch die enge Verknüpfung von Pharmazeutik sowie industrieller und militärischer Toxikologie. Hochrangige Besucher aus Politik und Militär der DDR nahmen an, dass er an geheimen Projekten forsche und sprachen daher ihm gegenüber auch relativ offen. Zu diesen Gesprächspartnern zählte der Chef des NVA-Zentrallazaretts, General Gestewitz. Nebenbei erwähnte Gestewitz Anfang der 60er Jahre, dass man nun über ein neues, noch bei Temperaturen unter minus 40 °C wirksames Nervengas verfüge. Gestewitz nahm in diesem Zusammenhang Bezug auf Einsatzmöglichkeiten gegen die US-Radar-Beobachtungsbasen in Alaska. A.-H. Frucht war alarmiert. Ein Ausfall der Besatzungen der Radarstationen hätte für sowjetische Interkontinentalraketen einen ungehinderten Korridor in die USA geschaffen. Ein sowjetischer Atomangriff wäre möglich geworden, das militärische Gleichgewicht wäre gestört. Er nahm Kontakt mit dem CIA auf, informierte über den neuartigen Kältekampfstoff und auch über den Aufbau eines von ihm entwickelten Gerätes für die Ermittlung und Messung von Giftstoffen in der Atemluft. Im Mai 1967 wurde A.-H. Frucht vom Ministerium für Staatssicherheit verhaftet, im März 1968 zu lebenslanger Haft verurteilt und in die Sonderhaftanstalt Bautzen II überstellt. Die ersten 5 Jahre musste er in Einzelhaft verbringen. Im Zuge eines Häftlingsaustausches zwischen DDR und Bundesrepublik wird er 1977 entlassen und reist nach Westberlin aus. Dort arbeitet er u.a. zu Fragen der wissenschaftlichen Moral. Am 22. Oktober 1993 verstirbt A.-H. Frucht in Berlin.
Familie Frucht wohnte von 1949 bis 1959 in Marienbrunn, Arminiushof 1. Damalige Marienbrunner Bekannte erinnern sich noch gern an gemeinsame Erlebnisse. Es muss ein offenes Haus gewesen sein, in dem die Kinder liberal erzogen wurden. Familie Frucht besaß bereits zu dieser Zeit ein Auto. Ausflüge, z.B. zum Baden an den Naunhofer See, unternahm man auch gemeinsam mit Kindern aus der Nachbarschaft.
In unserer Broschüre „Erinnerungen Marienbrunn“ können Sie mehr über das Leben von Prof. Dr. med. Adolf-Henning Frucht nachlesen.
Literatur