von Ulrich Kühn
„Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden.“ Dieses Wort aus dem 126. Psalm zitiert der im Oktober 2003 im Alter von 88 Jahren in Berlin verstorbene Ernst Georg Siegfried Schmutzler am Ende seiner autobiographischen Aufzeichnungen; sie sind unter dem Titel „Gegen den Strom“ 1992 bei Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen erschienen. Siegfried Schmutzler ist vor allem durch seine Zeit als evangelischer Studentenpfarrer in den Jahren ab 1954 bekannt geworden. Er war in seinem Dienst ein besonders scharfsichtiger und intellektuell souveräner und klarer Kritiker der SED-Herrschaft. Die Studentengemeinde zog damals viele begabte und eigenständig denkende Studierende aller Fakultäten an, weil sie hier ein Forum wirklicher geistiger Auseinandersetzung, zugleich aber die Ermutigung zu aufrichtiger Existenz aus christlichem Glauben heraus fanden. In den z. T. von Hunderten besuchten Bibelstunden und Gottesdiensten wurden von Schmutzler Fragen angesprochen, die die Studenten besonders bedrückten, z. B. die Unzufriedenheit mit den Pflichtvorlesungen über Marxismus-Leninismus, das Problem der entsprechenden Gesamtausrichtung des Studiums an einer staatlichen Universität, oder auch die Frage der erwarteten bzw. erzwungenen Mitgliedschaft in kommunistischen Organisationen wie der FDJ. Dies alles führte schließlich zur Verhaftung Schmutzlers am 5. April 1957, zu einem Schauprozess gegen ihn am 28. November 1957 und zur Verurteilung zu 5 Jahren Zuchthaus durch das Bezirksgericht Leipzig wegen ‚Boykotthetze‘ gegen die DDR. Unmittelbarer Anlass waren Vorträge gewesen, die Schmutzler mit einer Gruppe von Studenten in der evangelischen Kirchgemeinde Böhlen auf Einladung des dortigen Pfarrers gehalten hatte und gegen die örtlichen Parteiorgane mobil machten. Ein Vorwurf der Anklage betraf auch die Kontakte, die Schmutzler zu westdeutschen evangelischen Studentengemeinden und Akademien hatte. Schmutzler ist nach knapp vier Jahren am 18. Februar 1961 aus der Haft entlassen worden und war anschließend bis zu seiner Emeritierung im Bereich der kirchlichen Pädagogik beratend und lehrend tätig. Mit Beschluss vom 9. Juli 1991 ist er durch das Oberlandesgericht Stuttgart vollständig rehabilitiert worden. Siegfried Schmutzler wurde 1915 in Leipzig geboren, Ende 1924 zog er mit seiner Mutter Ella nach Marienbrunn, Am Bogen 19. Hier wohnte er zumindest bis Ende der Dreißiger Jahre, als er nach Markranstädt verzog. Er hatte ab 1933 zunächst Pädagogik und Philosophie studiert, unter anderem bei Theodor Litt, den er in besonderem Maße verehrte. Durch seine Begegnung mit der „Bekennenden Kirche“ winde seine kritisierte Haltung zum NS-Regime gestärkt, und er fand hierdurch den Weg zum christlichen Glauben. Nach Kriegsende und Gefangenschaft hat er von 1946 bis 1951 in Leipzig evangelische Theologie studiert und war währenddessen auch als Hilfsassistent im Institut für Systematische Theologie tätig. Dann war später kurzzeitig Leiter der Pressestelle der Sächsischen Landeskirche in Dresden, anschließend Pfarrer in Panitzsch bei Leipzig und danach (bis 1954) Studieninspektor in Lückendorf. Die Art und Prägnanz in der Schmutzler sich auch öffentlich mit der herrschenden Ideologie und der entsprechenden staatlichen Praxis auseinander setzte, war damals ungewöhnlich. Rückblickend hat er seinen von ihm durchaus verehrten theologischen Lehrern vorgeworfen, dass sie die Herausforderung einer Auseinandersetzung mit dem Marxismus – Leninismus nicht oder kaum annahmen. Auch bei der Landeskirche stieß er auf Zurückhaltung, und selbst seine Kollegen in den Studentenpfarrämtern anderer ostdeutscher Städte zeigten nach Schmutzlers eigenem Eindruck wenig Verständnis für seine Haltung. Dies zeigt auf seine Weise das Besondere seiner damaligen Aktivität, und es deutet auf eine innerkirchliche Auseinandersetzung über den sachgemäßen Weg in der DDR hin – eine Auseinandersetzung, über den sachgemäßen Weg in der DDR hin- eine Auseinandersetzung, die im Grunde in den gesamten 40 Jahren nicht zur Ruhe kam. Viele von uns an der Theologischen Fakultät und natürlich in der Studentengemeinde haben die Auseinandersetzungen mit heißem Herzen verfolgt und so gut es ging mitgetragen. Wir haben in Siegfried Schmutzler ein Symbol für eine Haltung gesehen, wie sie uns – gerade auch an der Universität – an und für sich nötig schien, freilich nur von wenigen gewagt wurde. Sein Tod erinnert an einen standhaften Zeugen, dessen Glaubensmut und Zivilcourage auch über die konkreten Umstände hinaus wegweisend ist.
Quelle
- Universitätsjournal 612003 – Überarbeitet von Birgit Richter